DER GEIST DER RENAISSANCE IN DER VENEZIANISCHEN MALEREI

Eine kunstgeschichtliche Betrachtung neuer Ideen, die von Venedig aussgingen.


Die Epoche der Renaissance ist von großer Bedeutung, weil sich zu dieser Zeit die konfessionelle Trennung vollzog. Dieses Ereignis veränderte viele Jahre das religiöse Leben in den einzelnen Staaten. Nirgends war die Gottesent-fremdung größer als in Italien, im Machtgebiet der katholischen Kirche. Der Kampf der herrsch- und streitsüchtige Kirche gegen den zum Leben erwachten evangelischen Geist war so heftig entbrannt, weil sich Päpste beharrlich weigerten Reformen in ihrem Machtbereich zuzulassen.

Rund 200 Jahre umfaßt die Entwicklung der italienischen Malerei in der Renaissance. In diesem Zeitraum geschah die Loslösung vom gotischen Idealismus und die Hinwendung zur rein diesseitigen Kunstanschauung auf einem dem Leben ausgerichteten Idealismus. Am Beginn der Renaissance befand sich die Malerei in Venedig noch ausschließlich im Dienste der Kirche. Die Künstler wurden noch nicht mit so großer Hochachtung betrachtet, wie dies heute der Fall ist.

Die Menschen hatten zu dieser Zeit zur Religion ein persönliches Verhältnis, es lag ihnen nicht allzu viel an sakralen Bildern, die sie andächtig oder reumütig stimmen sollten. Erst als das kulturelle Schaffen eine bestimmte Höhe erreichte, wurden die Empfindungen der Menschen nach-haltig beeinflußt, sie erlebten in den farbenprächtigen Bildern eine Quelle der Erbauung und Lebensfreude.

Ein ECHTES KUNSTWERK ist wie ein feingesponnenes Netz, für den Ver-stand immer unendlich, wird es angeschaut, empfunden und regt zum Nachdenken an. Angeschaute keine echte Wirklichkeit ist, Am Ende erkennt man, daß alles sondern nur ein Gleichnis.

Es ist Aufgabe der Vernunft, DAS EINE IN ALLEM ZU ERKENNEN, denn nur der Geist versteht die SPRACHE DER OFFENBARUNG.

Nicht was es zeigt bestimmt den Wert eines Bildes, sondern was es im Betrachter erwecken kann. Unsterbliche Werke gibt es nur in diesem Sinne.

Leonardo gab in seiner Schrift über die Malerei den Hinweis, daß die Zeichenkunst darin besteht, in jedem Gegenstand die besondere Art zu entdecken, wie sich durch ihn, in seiner ganzen Ausdehnung eine Welle von diesem Zentrum ausgehend bewegt, die der Ausdruck seines innersten Wesens ist. Sie gibt den Schlüssel zum wahren Verständnis des Ganzen. Sie wird weniger vom Auge wahrgenommen, mehr vom Geiste gedacht.

MALEREI IST EINE GEISTIGE AUFGABE, so Leonardo in seinem Werk, nur der Geist schafft den Körper nach seinem Bilde. Das Problem GEIST – MATERIE ist verstandesmäßig unlösbar. Ein Mensch der URTEILT kann nur die unvoll- kommenen Sinneswerkzeuge und sein problem- atisches Denken einsetzen. Geist und Materie sind zwei Aspekte im menschlichen Körper.

Der VERSTAND kann belehrt werden, die URTEILSKRAFT nicht, das muß ge-übt werden, ihr Wachstum zeigt sich in der geistigen Reife. Der Bruch mit der herkömmlichen Denkweise markiert das Aufkommen einer gewandelten Weltorientierung auf der Ebene von Gesellschaft und Politik. Es gibt nichts Bleibendes. Unbewegt wäre uns die Welt der Erscheinungen unfaßbar, ohne Veränderung in uns selbst, wären wir außerstande sie zu erkennen.

MADONNA VON CASTELFRANCO

1497/98

Madonna von Castelfranco

LEONARDO tat das für die Welt, was GIORGIONE in Venedig verwirklichte Er begrün- dete die Renaissance, die byzantinische Stadt war noch in der Nacht des Mittelalters, er wies den Weg ins weltliche Leben.

KUNST ist BRÜCKE
zur SCHÖPFUNG GOTTES,
zu MENSCH und NATUR.

Die damalige Gesinnung zeigte sich im erhabenen, würdevollen Leben. Neue Ideen schufen Kunstformen, vom ANTIKEN GEIST durchdrungen.

Giorgiones Bild ist verträumt, weltverloren, seine Madonna unterscheidet sich nicht von anderen Bildern. Er stellt ihren Thron in die freie Natur. Zwei männliche Gestalten zu beiden Seiten, ein Ritter in eiserner Rüstung links, ein Mönch mit Kutte rechts, Gleichnis der Dualität GUT und BÖSE.

Ungewöhnlich hoch der Thron, oben auf einem Podest sitzt die Madonna. Die Szene wirkt frei und luftig, ein Betrachter erkennt sofort ein Dreieck.

Die Felsgrottenmadonna Leonardos ist wie Giorgiones Bild keine sakrale Darstellung, symbolisiert geheimnisvolles Schöpfungs- geschehen der Natur. Ein neuer Stil kündigt sich an.

Das mit der Spitze nach oben zeigende Dreieck ist solar, der Sonne zugerechnet. Der Mensch mit Körper, Seele und Geist ist ein Abbild der Natur.

Materie ist Geist auf unterster Stufe einer zyklischen Entwicklung, Geist ist Materie auf der höchsten Ebene.

CHRISTUS wird dann neu geboren, wenn die gegenseitigen Beziehungen von Geist und Seele schöpferisch sind.

Mit ANTONELLA DA MESSINA erreichte die venezianische Malerei Ende des 15. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Der sizilianische Künstler, der in Venedig arbeitete, entwickelte eine neue Technik der Ölmalerei, wie sie bereits von JAN VAN EYCK in Belgien verwendet wurde. Ihre farbige Leuchtkraft wirkte auf alle Maler wie eine Offenbarung. Die besondere Farbentechnik ist Grundlage einer Kunst, die den Raum erobert, einer Malerei, in der Alles ins Unendliche fließt.

Man kann „Zufälle“ besser verstehen, wenn man weiß, daß Antonella da Messina in seinem Vorleben Jan van Eyck war. Dadurch ist seine Aufgabe in Venedig besser zu verstehen.

Der Raum in seiner Tiefe gewinnt in der Kunst entscheidende Bedeutung. Der Hintergrund als ein Zeichen des Unendlichen überwindet den sinnlich greifbaren Vordergrund. Damit wird das Tiefenerlebnis in die Seele eingebunden. Der weite Horizont wirkt im Bild als ein Symbol des grenzenlosen Weltraums, der die sichtbaren Einzeldinge als Besinnung in sich begreift.